mmWas für einige als ‘Tinnitus’ wahrgenommen wird, empfinden andere als 'Sound Of Silence'
mmIm vorliegenden Text wird von einem sehr hohen Ton gesprochen, der einem Pfeifen ähnelt und innerlich wahrnehmbar ist. Immer wieder erfahre ich, dass mich Praktizierende während des Yogaunterrichts auf diesen Klang, der im Inneren gehört wird, hinweisen.
mmAuch ich nehme einen Ton wahr, es ist nicht bloß ein einzelner Ton, manchmal sind es sogar mehrere. Der Ton, der mir häufig geschildert wird und den ich selbst höre, könnte als ein hoher, pfeifender Klang charakterisiert werden. Doch es existieren noch weitere Töne, wobei einer sich anhört wie das Blasen durch ein Rohr oder ein anderer, der mehr Fülle und Dichte besitzt. Es ist nicht leicht, diese Klänge genau zu charakterisieren oder zu definieren.
mmIn der Regel berichten mir Menschen, die von diesem Geräusch erzählen, dass sie fest davon überzeugt sind, an Tinnitus zu leiden. Dies geht oft mit der Annahme einher, dass etwas mit ihnen nicht stimmt und sie unter einem Leiden zu kämpfen haben. Daher möchte ich hier kurz schildern, wie ich selbst auf diesen Klang aufmerksam wurde und darauf hinweisen, weshalb das Hören dieses Klanges nicht zwangsläufig als Leiden empfunden werden muss, sondern vielmehr auch als etwas Befreiendes wahrgenommen werden kann.
mmEs liegt schon viele Jahre zurück, und es geschah in Norfolk, England, im Heim einer älteren englischen Dame. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits als Anagarika ordiniert, was in der Pali-Sprache 'Hausloser' bedeutet und eine Vorstufe ist, um später Novize für das Mönchstraining zu werden. Die freundliche ältere Dame hatte Ajahn Sumedho eingeladen, zusammen mit einigen wenigen Gästen ein Wochenende in ihrer Gesellschaft zu meditieren. Auf dem Boden ihres Wohnzimmers versammelten wir uns in einem Kreis und verbrachten zahlreiche Stunden in stiller Meditation. Typisch für England gab es häufig Unterbrechungen für Tee und Süßigkeiten. Da die Gastgeberin ein lebhaftes Interesse an Meditation hegte, wurde dies während dieser Pausen zu einem zentralen Gesprächsthema. Ajahn Sumedho erwähnte dabei einmal einen Klang, den man innerlich wahrnehmen könne und den er zur Fokussierung in seiner Meditation nutze. Er nannte diesen Klang den 'Sound of Silence'. In jener Zeit, als ich gerade erst mit meinen Meditationserfahrungen begann, war ich sehr daran interessiert, besondere meditative Erlebnisse zu haben, und während des nächsten stillen Sitzens suchte ich nach möglichen inneren Klängen. Und dann, tief im Inneren meines Geistes, kaum wahrnehmbar, entdeckte ich sogar mehrere davon. So fand ich den Zugang zu diesem inneren Klang durch meinen geistigen Lehrer, für den ich große Zuneigung empfinde und habe keinerlei negative Assoziationen damit, dass das Hören dieses Klanges auf irgendeine Weise mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen verbunden sein könnte.
mmAnders verhält es sich bei Menschen, die von einem Tinnitus berichten. Für sie stellt es eine Belastung dar und für manche sogar eine unerträgliche Qual, und diese Sichtweise wird auch von der Schulmedizin anerkannt. Dennoch gehe ich davon aus, dass es sich bei Tinnitus und dem Klang der Stille um denselben akustischen Eindruck handelt.
mmEs ist von großer Bedeutung, wie man zum ersten Mal mit diesem Geräusch konfrontiert wird. Mein persönliches Erlebnis unterscheidet sich stark von den Berichten jener, die unter Tinnitus leiden, und den Umständen, unter denen sie diesen Klang wahrgenommen haben. Sie berichten häufig von extrem lautem Lärm, Stress, Depression, Burnout, Nebenwirkungen von Arzneimitteln, Alkohol, Drogen, Mangelernährung, Elektrosmog und ähnlichem. Ich zweifle nicht daran, dass solche Faktoren das Hören dieses Geräuschs hervorrufen können. Ähnlich wie die Schulmedizin halte ich es für wichtig, sich mit diesen Ursachen auseinanderzusetzen. Betroffene Menschen beschreiben zudem andere wahrgenommene Klänge oder Geräusche, wie beispielsweise ein Rauschen oder Pochen, die in Verbindung mit den zuvor genannten Auslösern deutlich hörbar werden. Beim Klang, von dem ich spreche, handelt es sich um einen konstanten und stets wahrnehmbaren Ton, sofern die innere Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird.
mmWas das Hören dieses Tons betrifft, empfinde ich es weder als Mangel noch als Belastung. Daher überrascht es mich nicht, dass die Schulmedizin häufig empfiehlt, sich an diesen Klang zu gewöhnen, da bislang keine wirksamen Heilmethoden dagegen entdeckt wurden. Nach meinen Erfahrungen ist dies jedoch nicht wirklich erforderlich, denn das Hören dieses Tons hat sich für mich zu einem Geschenk und sogar zu einer Befreiung entwickelt - weshalb?
mmMit gewisser Erfahrung in der Meditation erlangen wir tiefere Einsichten in die Funktionsweise unseres Geistes. Diese Erkenntnisse verdeutlichen, dass ein Großteil unseres Denkens eine erhebliche Belastung für den Geist darstellt. In der Welt der Gedanken begegnen wir Träumereien und Vorstellungen über uns selbst und andere Menschen sowie Wünschen und Abneigungen, die mit Illusionen und Projektionen verbunden sind, wie Ängsten und Neurosen. All dies manifestiert sich in erster Linie durch Gedanken. Wenn dann unerwartet und gelegentlich dieser innere Klang hörbar wird und wir uns ihm zuwenden, zerfällt für einen kurzen Augenblick die Welt der Gedanken und Vorstellungen. Wir befinden uns im Hören des Klanges und erleben den gegenwärtigen Moment sowie die Dinge um uns herum. Im Akt des Hörens des Klanges existieren weder Vorstellungen noch Wünsche oder Abneigungen, noch gibt es ein Gestern oder Morgen; für einen kurzen Moment bleibt nur der Klang und die Wahrnehmung dessen, wo wir uns gerade befinden. Für einen Augenblick ist die Welt der gedanklichen Konzepte über uns selbst und andere Menschen zum Stillstand gekommen, was ich als eine kleine, immer wiederkehrende Erholung und Befreiung empfinde. Dabei könnte uns sogar der Ursprung des Geistes bewusstwerden, wenn wir lernen, in diese Gegenwart hineinzuhören. Es kann sich offenbaren, wo eigentlich Liebe, Freude und Heiterkeit ihren Ursprung haben und ohne äußere Bedingungen erfahrbar werden.
mmIn zahlreichen alten asiatischen Texten, wie zum Beispiel im Yoga, Tantra, den Upanishaden, dem Mahayana Buddhismus und anderen, wird häufig betont, dass das Wahrnehmen dieses Klanges als Orientierungshilfe fungiert, um den erleuchteten Geist sowie den grundlegenden Kern unseres Seins zu erkennen. In diesem Zusammenhang sind mir insbesondere die Werke von Paramahansa Yogananda aufgefallen, insbesondere sein Kommentar zur 'Bhagavad Gita' und 'The Second Coming Of Christ', in denen klar dargelegt wird, wie die Ausrichtung auf den Klang 'Nadabrahma' in seiner spirituellen Praxis von großer Bedeutung war.
Im Folgenden sind zwei Texte aufgeführt, die aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt wurden. Diese stammen aus Büchern, die sich mit dem Thema des Klangs der Stille, bekannt als 'Sound of Silence' oder 'Nadabrahma', befassen.
mmAjahn Amaro
mmAjahn Amaro ist der Abt des Buddhistischen Klosters Amaravati in Hertfordshire, Großbritannien.
Der Titel des Werkes lautet: Inner Listening, ISBN: 978-1-870205-57-3, Seiten 58 - 59. Das zentrale Thema dieses Buches ist der 'Klang der Stille', wobei im Abschnitt 'Fragen und Antworten' auch die Thematik des Tinnitus behandelt wird.
mmFrage: Wenn ich deinen Anweisungen folge und in der Meditation auf den Klang der Stille achte, fühlt es sich an, als ob dies dem entspricht, was ich beim Tinnitus erlebe – gibt es da eine Verbindung? Dieser innere Klang hat mich stets gestört, und nun forderst du uns auf, genau darauf zu hören. Plötzlich beginne ich, mich an seiner Präsenz zu erfreuen. Was passiert hier eigentlich?
mmAntwort: In der Architektur existiert ein altes Prinzip, das besagt: „Wenn man an einem Projekt arbeitet und mit einer unvermeidlichen Unregelmäßigkeit konfrontiert wird, sagen wir, ein alter Balken ragt in einen Raum hinein oder ein harter Felsbrocken steht mitten im Garten und lässt sich nicht verbergen, dann mache etwas Besonderes daraus." Da wir nicht aus einer Tradition stammen, die den 'Nada'-Klang als eine erhabene Qualität versteht und ihn daher als lästige Störung empfindet, würde ich vorschlagen, dass die meisten von uns ihre Einstellung dazu ähnlich wie im Balken-Aphorismus ändern können. . . . . . Bei einem Tagesworkshop zu diesem Thema erzählte eine Teilnehmerin der Gruppe, dass sie diesen Klang jetzt als spirituelle Unterstützung betrachten könne, sich jedoch sehr darüber ärgerte, dass sie viel Geld für Spezialisten ausgegeben hatte, die ihr nicht wirklich helfen konnten. "Ich bin wirklich wütend," lachte sie, "aber ich fühle mich sehr befreit, weil ich das Ganze nicht mehr als Problem betrachte und denke, dass ich das Problem jetzt überwunden habe."
mmSwami Niranjanananda Saraswati
mmSwami Niranjanananda Saraswati war von 1993 - 2008 der Nachfolger von Swami Satyananda Saraswati als Präsident und Guru der Bihar School of Yoga in Munger, Bihar, Indien.
Titel des Buches: Yoga Darshan, ISBN: 81-86336-26-5, Seite 243.
mm. . . Das höchste Ziel aller Yogaformen, insbesondere des Mantra Yoga, besteht darin, das Erwachen des Nada, des ungehörten oder ungeschlagenen Klangs, zu erreichen. Der ungehörte oder ungeschlagene Klang wird als Anahada Nada bezeichnet und sollte nicht mit dem Anahata Chakra verwechselt werden. Dieser Anahada Nada kann in einem tiefen meditativen Zustand wahrgenommen werden, wenn der grobstoffliche Geist überwunden ist. Um die Aufmerksamkeit der menschlichen Persönlichkeit auf den Nada oder die Klangvibration zu lenken, stehen zahlreiche Yogapraktiken zur Verfügung, wie zum Beispiel Mantra-Yoga und Nada-Yoga.